Auf der Wasserfront: Symphonische Suite

Leonard Bernstein
Dauer: 23'

Die Hafenarbeiter in den Docks von New York, die mafiosen Geschäfte der Gewerkschaftsbosse, Karl Malden als humanitär engagierter Priester – und mittendrin Marlon Brando als ehemaliger Boxer und naiver Handlanger der kriminellen Gewerkschafter, ein Muskelpaket, dessen geistige Kraft sich erst allmählich durch die Liebe zu einer Frau, durch des Priesters Ansprachen und durch die mörderischen Anschläge in seinem Umfeld zu Aufrichtigkeit und Gewissensstärke entfaltet: Die Bilder, die Elia Kazan 1954 in seinem Drama «On the Waterfront» erfand, bleiben unvergesslich. Sie haben das amerikanische Kino entscheidend beeinflusst und ihm das Potenzial eines bis dahin in den USA für undenkbar gehaltenen cineastischen Realismus’ gezeigt. Der Film wurde mit acht Oscars überschüttet, und Marlon Brandos (neben James Dean die andere grosse Schauspielerentdeckung Elia Kazans) phänomenal nuanciertes Spiel wurde zum wegweisenden ersten «method acting». Leonard Bernsteins Filmmusik erhielt damals zwar keinen Oscar (nominiert war sie freilich), doch sie ist gleichwohl nichts weniger als ein Meisterwerk in ihrer Kunst geworden, Kazans realistisch-dokumenarische Filmästhetik klanglich zu illustrieren und dabei emotionale Kraft zu entfalten, ohne die Subtilität der Bilder mit Gefühligkeit zuzudecken. Darin liegen auch die konzertanten Qualitäten der symphonischen Suite, zu der Bernstein die Filmpartitur später umgearbeitet hatte. Sechs Abschnitte erzählen die Geschichte mit musikalischen Mitteln nach. Dabei gewinnt die Hornmelodie, die («with dignity») gleich zu Beginn erklingt, die Funktion einer Art «Hauptfigur». Sie durchzieht mit ihrer durch eine «blue note» melancholisch eingetrübten Einstimmigkeit die Ereignisse. Zunächst prallt sie übergangslos auf die harten perkussiven Tumulte, die sich in der Folge zum rhythmischen Aufruhr steigern. Die milden Streicher der süssen Liebe lösen diese ab, bringen sukzessive die Schlagzeugeinwürfe zum Verstummen, lassen das Einleitungsthema in Flöte und Harfe erblühen und im vierten Abschnitt «with warmth» zur Erfüllung kommen. Daraus erwächst schliesslich der Entschluss zur Tat: Im fünften Teil steigert sich das Thema in geradezu neoklassizistischem kanonischem Kontrapunkt, bis es endlich rhythmisch zupackt, um darauf erneut elegischen Erholung in der Liebe zu finden und schliesslich in letzten Schlägen ein ambivalent triumphierendes Ende zu erlangen: Wie in «Fidelio» hat sich die Rechtsstaatlichkeit auch hier zwar durchgesetzt, doch verweigert Kazans Realismus ihrem Sieg die beethovensche utopische Hoffnung auf eine unumkehrbare Wende – auch weiterhin wird mafiose Wirtschaftskriminalität zuerst und vor allem die einfachen Arbeiter treffen.

©Michael Eidenbenz

 



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